„Hinsehen, zuhören, ernst nehmen“

Sexuelle Gewalt im Sport: Ein schweres Thema im Vereinsalltag / Verbände bieten Hilfe bei Verdachtsfällen

Neue Osnabrücker Zeitung v. 18. Januar 2022
Raphael Steffen und Jakob Patzke

Aufsehen erregen immer die großen Skandale: Larry Nassar, der ehemalige Mannschaftsarzt der US-Turnerinnen, der spätere Stars wie Simone Biles sexuell missbraucht hat. Stefan Lurz, mittlerweile zurückgetretener Bundestrainer der Freiwasserschwimmer, soll immer wieder minderjährige Athletinnen bedrängt haben. Selbst der Profisport, dessen Protagonisten bekannte Persönlichkeiten sind, tut sich mitunter erkennbar schwer mit dem Schutz der ihm anvertrauten Menschen.
Und was ist mit dem Amateursport? Dem Verein aus dem Dorf nebenan, jenseits allen Rampenlichts? Wie kann hier bestmöglich verhindert werden, dass es zu sexueller Gewalt durch Trainer, Betreuer, Mannschaftskameraden kommt? Der Stadtsportbund (SSB) Osnabrück ist diesbezüglich gebranntes Kind. Bis heute wirkt das Trauma der „Ameland-Geschichte“ nach. 2010 kam es während der traditionellen Ferienfreizeit des SSB auf der niederländischen Insel Ameland zu sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen. Die ehrenamtlichen Betreuer standen nie im Verdacht, sich strafbar gemacht zu haben – aber waren mit den Vorkommnissen und der Wucht der deutschlandweiten medialen Aufmerksamkeit überfordert.
Neben der Frage, warum junge Menschen zu solchen Taten fähig sind, rückte auch die Verantwortung der Betreuer in den Fokus. Schnell war die Rede vom „kollektiven Versagen“, von einer „Kultur des Wegschauens“.
Mehr als zehn Jahre sind vergangen, und der Stadtsportbund hat sich eine „Kultur des Hinschauens“ auf die Fahne geschrieben. Angestoßen auch durch die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche, haben der Landesverband und die Sportjugend Niedersachsen 2010 ein Projekt zum Schutz von Kindern und Jugendlichen auf den Weg gebracht, es gibt Leitfäden, Konzepte, eine Clearingstelle und Strukturen, die seit 2021 institutionalisiert sind im Handlungsfeld „Prävention sexueller Gewalt“. Viel Bürokratendeutsch – doch in Osnabrück wird es auch konkret durch Jutta Schlochtermeyer.
Die ehemalige Schulleiterin ist seit Jahren im Vorstand des SSB, außerdem Vizepräsidentin des Behindertensportverbandes Niedersachsen. Sie ist neben SSB-Sportreferent Heiko Brüning Ansprechpartnerin zum Thema Missbrauch und damit zuständig für Prävention und Intervention. Also für die Vorbeugung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, wie es rechtlich heißt, und für ein angemessenes Vorgehen, wenn ein Verdacht im Raum steht.
Dazu fördert der Landessportbund die Einrichtung sogenannter Tandems: Kooperationen von Ansprechpartnern aus den Sportverbänden, wie Schlochtermeyer, und örtlichen Fachberatungsstellen. An diese Tandems soll sich wenden, wer meint, etwas Verdächtiges beobachtet zu haben – oder wer im sportlichen Umfeld zum Opfer geworden ist. Hier beginnen für Schlochtermeyer die Probleme. „Es gibt keine klassischen Beratungsstellen zur Prävention sexueller Gewalt in Osnabrück“, sagt sie, „ich finde einfach keine.“
Das Tandem soll nicht nur eigene Schutzkonzepte für die Osnabrücker Vereine erarbeiten und ihnen zur Verfügung stellen, sondern auch erste Anlaufstelle für Betroffene sein. „Alles, was in diesem Setting passiert, wird dominiert von der Frage: Was ist das Beste für das Opfer?“, erklärt Schlochtermeyer: „Das kann ich nicht nach dem Bauchgefühl machen. Es geht um Professionalität, nicht um Emotionalität.“
Außerdem sollen die Tandems den Vereinen in der Präventionsarbeit beratend zur Seite stehen. Hier mussten zunächst Vorbehalte überwunden werden. Die Rede vom Generalverdacht machte schnell die Runde, auch Beschwerden der Art: Wenn der Trainer jetzt nicht mal mehr die Kinder nach Hause fahren darf, können wir unsere Arbeit gleich einstellen. Schlochtermeyer kennt diese Befürchtungen: „Vereine sollen immer mehr leisten: Prävention, Integration, Inklusion. Das beißt sich mit der Ehrenamtlichkeit“, weiß sie. Deshalb sei es wichtig zu signalisieren: Ihr seid nicht allein mit dem Problem.
Philipp Karow ist Ansprechpartner zum Thema beim Kreissportbund: „Die Vereine kommen vor allem mit diesen Fragen auf uns zu: Was müssen wir in solchen Fällen tun? Was wird von uns in solchen Situationen erwartet?“ Dann tritt Karow auf den Plan; sein Angebot werde von den Vereinen angenommen. Es reicht von der Bereitstellung von Infomaterial bis zu persönlichen Schulungen durch Referenten.
Zur mühsam etablierten „Kultur des Hinschauens“ gehört darüber hinaus eine Art Ehrenkodex, den heute jeder Übungsleiter verpflichtend unterschreiben muss. Natürlich wird sich ein potenzieller Täter durch ein Stück Papier nicht von Übergriffen abhalten lassen. Aber im Verein merkt vielleicht jemand früher, wenn irgendetwas plötzlich nicht mehr stimmt. „Egal, was jemand sagt: Erst mal ernst nehmen!“, mahnt Schlochtermeyer. „Auch wenn es sich als falscher Verdacht herausstellt.“ Rechtzeitig hinsehen, zuhören, die Situation aufnehmen, an die zuständigen Stellen weitertragen: So lassen sich hoffentlich viele Taten verhindern – oder Täter frühzeitig stoppen.


Hier gibt es Hilfe

Wer von sexualisierter Gewalt im sportlichen Umfeld betroffen ist, einen entsprechenden Verdacht hegt oder von Missbrauch erfahren hat, kann sich vertraulich an folgende Stellen wenden:

Clearingstelle der Sportjugend Niedersachsen: Telefon 0511 1286274 (dienstags 10 bis 12 Uhr, donnerstags 13 bis 15 Uhr )
Stadtsportbund Osnabrück:
Jutta Schlochtermeyer, Tel. 0171 2203747, E-Mail: ; Heiko Brüning, Tel. 0541 93935712, E-Mail: .
Kreissportbund Osnabrück-Land: Philipp Karow, Tel. 0541 60017964, E-Mail: philipp.karow@ksb-osnabrueck. de.